Für einen Delikatessen- und Feinkosthändler wie mich sollte ein Gouda ja nicht unbedingt ein Thema für so eine lange Geschichte sein. Gouda ist doch der Käse, den es geschnitten und am Stück bei jedem Discounter und in jedem Supermarkt für ganz wenig Geld zu kaufen gibt. Was soll denn daran Feinkost sein?
Natürlich ist das richtig. Der Gouda vom Discounter und der Gouda im Supermarktkühlregal hat mit feinem Essen nichts zu tun. Er ist billig, er macht satt und er schmeckt Kindern. Viel mehr hat dieses Produkt nicht zu bieten, und den dritten Punkt erfüllt es auch nicht, wenn man anstelle der Variante „Jung“ die Variante „Mittelalt“ oder gar „Alt“ wählt.
Wie kommt es aber, dass ein solch lapidares Lebensmittel in so vielen Märkten anzutreffen und dort tatsächlich auch noch gekauft wird? Und das in unglaublichen Mengen. Gouda ist der meistgegessene Käse der Deutschen, gefolgt von Frisch- und Schmelzkäse. Wie konnte es passieren, dass ein kulinarisch so uninteressantes Produkt auf der Beliebtheitsskala so weit oben steht?
Angefangen hat der Gouda-Boom nach dem Zweiten Weltkrieg in der Wirtschaftswunderzeit. Unser Nachbar die Niederlande verfügte über saftige Wiesen und üppige Kühe, die im Sommer phantastische Milch gaben, weil sie sich im Freien von Gras, Klee und Kräutern ernährten. Im Winter war die Milch zwar etwas weniger aromatisch, aber auch hier wurde mit dem guten Heu und anderen guten Produkten der niederländischen Landwirtschaft gefüttert. Die reine Vollmilch dieser Kühe wurde weitestgehend unbehandelt in bäuerlichen Meiereien in einen phantastischen, cremig-würzigen Käselaib verwandelt, der den Älteren von uns noch heute ein seliges Lächeln aufs Gesicht zaubert. Dieser Gouda wurde in den Lebensmittelgeschäften der Republik am Stück oder in Scheiben an den Endverbraucher verkauft. Sollte man sich für Scheiben entschieden haben, so wurde der Käselaib auf eine Käse-Guillotine gewuchtet und der Kaufmannsladenbesitzer schnitt lange Scheiben tagfrisch vom Stück weg. Diese Scheiben landeten dann am Abend auf dem Abendbrot und bereits am nächsten Tag ging die fleißige Hausfrau wieder zum Kaufmannsladen, um neuen Gouda für den geliebten Gatten und die wohlgeratenen Kinder zu besorgen.
Auch ich war eins der wohlgeratenen Kinder der Wirtschaftswunderzeit (auch wenn meine Mutter das anders sehen würde) und auch ich liebte diesen Käse, besonders im Mai und Juni, wenn die Milch und der Käse wieder nach Kräutern und Klee schmeckten. Dieser Mai-Gouda war für die ganze Familie ein kulinarisches Ereignis. Jetzt sind wir Wirtschaftswunderkinder die Familienoberhäupter oder zumindest waren wir es für lange Zeit, bis unsere Kinder diesen Job übernommen haben. Wir konnten noch beobachten, wie die Kaufmannsläden von den Supermärkten und die Supermärkte von den Discountern und Einkaufszentren verdrängt wurden. Und wie haben diese Discounter und Einkaufzentren das geschafft? Sicher nicht über die hohe Qualität der dargebotenen Lebensmittel. Nein, sie haben es einzig und allein über den Preis geschafft.
Der Gouda hatte sich so viele treue Fans geschaffen, dass jeder Supermarkt und jeder Discounter ihn einfach im Programm haben musste. Wer jetzt die Einkaufspolitik der großen Lebensmittelketten kennt, der kann sich vorstellen, wie die Entwicklung weiter ging. Zuerst suchten sie sich die guten Lieferanten raus und kauften Ihre Ware dort. Dann erhöhten sie Ihre Bestellmengen immer mehr und zwangen dadurch den Lieferanten in neue Maschinen, größerer Herden und mehr Personal zu investieren. Wenn das alles passiert ist, hörten sie auf zu kaufen. Der Lieferant hatte sich aber bis dahin in finanzielle Abhängigkeit begeben und brauchte den großen Kunden, um zu Überleben. Jetzt war er Spielball in den Händen der hochprofessionellen Einkäufer und die diktierten jetzt den Preis. Für den Produzenten hieß es jetzt mitspielen oder Pleite gehen.
Am Ende müssen alle Produzenten, die sich auf diese Kunden einlassen, dieses Spiel mitspielen. Dieses Spiel ist bekannt und jeder der sich auf so etwas einlässt weiß, wie es endet. Doch die Gier macht blind und taub und so glaubt man gerne den Versprechungen der charmanten Einkäufer, die einem bei Vertragsabschluss einfach alles versprechen. Wie schlimm diese verhängnisvolle Geldfixierung sein kann, das merkt ja jeder an sich selbst. Wenn es die nicht gäbe, würde wohl niemand von Ihnen dieses unsägliche Zeug aus der Käsetheke der Discounter kaufen. Wie es darein gekommen ist, war natürlich die Folge der erzwungenen Niedrigpreise. Kein Landwirt in Europa arbeitet mit so hohen Profiten, dass eine drastische Preissenkung durch geringeren Gewinn ausgleichen lassen könnte. Um die niedrigen Preise darstellen zu können, hat der Produzent an allen Ecken und Enden einsparen müssen. Das bedeutete mehr Kühe auf weniger Wiesen mit billigem Turboschnellwachsfutter und höhere Milcherträge bei gleichzeitig minderwertigem Futter. Handarbeit wird durch Maschinen ersetzt, die gute Vollmilch durch pasteurisierte und sterilisierte Plörre. Das Ganze wird Jahr für Jahr aufs Neue auf die Spitze getrieben. Das Resultat können Sie für 55 Cent pro 100 Gramm als Dauerniedrigpreis in den Regalen der Discounter finden. Das hat mit dem anfangs beschriebenen Gouda nichts mehr zu tun. Tatsache ist aber, dass nur noch zwei Prozent des in Holland produzierten Goudas bäuerlich und aus frischer Milch hergestellt wird. Die restlichen 98 Prozent sind leider genau das, was ich zuletzt beschrieben habe. Ein Industrieprodukt das im Glücksfall in Anklängen an das Original erinnert.
Diese zwei Prozent Gouda sind es jedoch, die mein Herz und meine Zunge zutiefst beeindrucken. Dabei sind es nicht die wunderbaren Mai-Goudas aus frischer Vollmilch, die ich immer noch liebe, sondern es sind die gereiften Goudas, die ich heute in der Liste der weltweit besten Käse ganz oben ansiedele. Selbstverständlich müssen sie handwerklich hergestellt werden, aus bäuerlicher Produktion stammen und unter den besten Bedingungen lange gereift werden. Dann entsteht etwas, was den anspruchsvollsten Gaumen verzaubert. Ein gereifter Käse, der trotz seines Alters noch eine Kernigkeit besitzt. Der nicht scharf, sondern gehaltvoll und würzig schmeckt und der einem die Erinnerung an die gute alte Zeit wieder zurückbringt, aber gleichzeitig so spannend und aufregend durch die feinen Salzkristalle, die immer wieder auf der Zunge aufpoppen. Ein perfekter Begleiter beim Picknick, zum Wein und in der Küche. Mein Favorit heißt „Reypenaer X.O.“ – das X.O. steht für Extra Old und bescheinigt eine Reifung von über zweieinhalb Jahren. Demselben Sprachgebrauch folgend gibt es auch einen „Reypenaer v.s.o.p“ der „nur“ zwei Jahre gelagert wurde und ein „Reypenaer“ ohne Zusatzauszeichnung, der ein Jahr Reifung hinter sich hat. Sich die Produktion dort anzusehen, ist mit Sicherheit einen kleinen Ausflug über die Grenze wert. Um sich mit diesem Käse vertraut zu machen bietet der Hersteller kleine 1/32 Käselaib-Stücke von 135 Gramm an. Diese kosten aber keine 50 Cent, sondern eher 5 Euro pro 100 Gramm, denn so viel kostet, es guten Käse herzustellen. Besonders charmant finde ich die kleine Guillotine, die man passend dazu für kleines Geld erwerben kann. Sie erinnert mich ein wenig an die Käse-Guillotine aus dem Kaufmannsladen meiner Kindheit.
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